Die Graupenstrasse wieder lieferbar!

Die Graupenstrasse wieder lieferbar!

Ein Freund der Familie, Werner Rathsfeld, wurde 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in Nordhausen verhaftet, in Buchenwald interniert und zu 15 Jahre Haft in Waldheim verurteilt.

Die Anklage: Sein Unternehmen für Tapetendruckmaschinen habe Kriegsmaterial für die Wehrmacht hergestellt. Seine Erlebnisse im NKDW-Keller in Nordhausen, im Speziallager und im Zuchthaus Waldheim hat Rathsfeld in seinem Buch „Die Graupenstrasse“ beschrieben. Seine Frau Ursula steuerte ihre Erlebnisse und die ihrer drei Kinder bei. Das Ehepaar ist längst gestorben.

Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald nennt „Die Graupenstrasse“, Anfang der 90er-Jahre erschienen und bislang vergriffen, ein anschauliches Dokument für Besucher der Gedenkstätte und Schulen. 

Darum entschlossen wir uns, das Buch neu aufzulegen und in Nordhausen (wo sonst) drucken zu lassen. 

Professor Dr. Volkhard Knigge, Stiftungsdirektor der Gedenkstätte Buchenwald, schlug Alarm. Vor etwa einem Jahr entdeckte er, dass das Buch „Die Graupenstrasse – Erlebtes und Erlittenes in Nordhausen, Buchenwald und Waldheim“ von Werner und Ursula Rathsfeld vergriffen war.

Er nannte das Buch ein Zeugnis der Zeitgeschichte und ein anschauliches Dokument für Besucher der Gedenkstätte und für Schulen. Grund genug für Nordhäuser Freunde, sich zusammenzuschließen und das Buch neu aufzulegen.Heimat. 

Thüringen. Nordhausen am Harz. Immer wieder zieht es mich dort hin, dort an die Stätte meiner Jugend. Beim letzten Besuch reibe ich mir verwundert die Augen, staune. Ich sehe die liebevoll renovierten Häuser in der Oberstadt, die schmucken Gärten.

Viel Eigeninitiative und hoffentlich viel Geld aus dem Solidaritätszuschlag. Der wird von allen Deutschen gezahlt. Dieser Beitrag hilft, die Wunden, die Krieg und Sozialismus geschlagen haben, zu schließen. Das Schild „Albert-Traeger-Strasse“ ist wieder richtig geschrieben. Irgendein Unwissender hatte zu DDR-Zeiten aus dem Namen des Politikers und Poeten in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein „Albert Träger“ gemacht. Mit „ä“ – schrecklich.

„Nordhausen, Alexander-Puschkin-Straße 19. Hier wohnten Ursula und Werner Rathsfeld mit ihren drei Kindern.“ Foto: Roland Obst

 Hier wohnte meine Familie. Um die Ecke herum die Alexander-Puschkin- Straße Nr. 19. Dort lebte mein Freund Lutz-Martin Rathsfeld. „In der Wohnung ist niemand. Jutta und Marei haben am Nachmittag Schule, und Lutz-Martin spielt wohl mit seinem Freund Wilm Herlyn.“ Das schreibt seine Mutter Ursula Rathsfeld, am 5. Juni 1950 in ihr Tagebuch. Die junge Frau war gerade die Treppe herauf gestiegen. Sie erwartet Besuch. Besuch von der Polizei. Und bittet die Nachbarin, ihre Wohnungstür etwas offen stehen zu lassen, damit sie hören kann, falls die Männer sie nach der Unterredung mit nähmen. Denn wer kümmert sich dann um die Kinder?Und da sind sie schon, zwei Männer in Zivil. Ihre Namen auf den Ausweisen verdecken sie. Sie gehen in das Wohnzimmer, einer „direkt zum Radio. Er prüft, welche Stationen eingestellt sind – es ist Leipzig. Eine andere, aus dem anderen Teil Deutschlands zu hören, ist nämlich bei Strafe verboten.“

Eine Postkarte nach fünf Jahren Haft

Sie notiert weiter: „Dann fragt man mich nach Werner. Ich sage ihnen, dass ich vor Kurzem als erstes Lebenszeichen nach fast fünf Jahren eine Karte von ihm aus der Strafvollzugsanstalt Waldheim bekommen habe.“ Fünf lange Jahre voll Bangen und Hoffen.

21. November 1945. Buß- und Bettag. Vor dem Rathsfeld-Haus in der Grimmelallee gegenüber der „Kommandantura“, von den Russen bei ihrem Einzug in Nordhausen nach dem 1. Juni beschlagnahmt, hält ein Auto. Der Fahrer ruft: „Werner Rathsfeld?“ „Ja“, sage ich knapp. „Mitkommen. Personalien aufnehmen.“ Und: „Auch gleich wieder da“. Jutta, die Sechsjährige klammert sich an meine Beine und sagt immerzu. „Vatilein, Vatilein, geh nicht mit dem Russen mit!“ So erinnert sich Werner Rathsfeld. Gleich wieder da?

„Abendappell“ nannte Bruno Habich seine Bleistiftzeichnung vom Alltag im Speziallager Buchenwald.

Das Wiedersehen lässt sieben Jahre voll unendlichem Leid und Elend im Keller der NKWD in der
Nordhäuser Karolingerstraße, im Internierungslager Buchenwald und im Zuchthaus Waldheim. auf sich warten Viel später, nach der Flucht in den Westen, entschließt sich Werner Rathsfeld, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er nennt sie „Die Graupenstrasse“ das war der Lagerweg in Buchenwald, von dem die Essensausträger jeden Tag die dünne Wassersuppe in den Baracken verteilten. Darin gibt er Einblick in ein düsteres Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.
Er beschreibt anschaulich die unmenschlichen Praktiken der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer deutschen Helfer, aber auch die alles überwindende Kraft von Menschlichkeit und Liebe.Die Spannung erhöht sich durch die Schilderungen seiner Frau, darüber wie sie diese Zeit des Wartens und der Unsicherheit in Nordhausen bewältigte und das Überleben der Familie sicherte. Ohne die Unterstützung von Verwandten und Freunden wäre ihr das so nicht möglich gewesen. Es gehört zu den Phänomenen jener Zeit, dass die Menschen in der DDR durch den Druck von außen durch Staat, Behörden, Bespitzelung und Zwang ganz nahe zusammenrückten.

Ursula Rathsfeld gehörte bald zu der „Meute“ – so nannten sich in Nordhausen acht, neun Familien, die jede Möglichkeit nutzten, um miteinander zu reden, einander zu helfen, dem Druck zu widerstehen. Und es nimmt nicht Wunder, dass sich auch die Kinder befreundeten. Enge Beziehungen, die bis heute halten, auch wenn die Freunde inzwischen in alle Winde verstreut sind. Und darum war es auch ein Leichtes, genügend Menschen für die Initiative der Neuauflage „Die Graupenstrasse“ zu begeistern, unterstützt von Nordhäuser Verbänden und Institutionen.

Erschütternd ist das Erlebnis des Waldheim-Häftlings Rathsfeld, als er von einem mitgefangenen Arzt 1950 ein in das Zuchthaus geschmuggeltes Foto seiner drei Kinder Jutta, damals 11 Jahre, Marei (9) und Lutz-Martin (6) in seinen Händen halten konnte. Familienbilder sind bei Strafe strengstens verboten. Er schneidet deshalb das Foto in drei Stücke, auf jedem der Kopf eines seiner Kinder, und versteckt den Schatz im Bund seiner Unterhose. Doch seine Furcht und Sorge vor Entdeckung ist so groß, dass er die drei kleinen Teile dann doch später vernichtet – aber die Fotos in seinem Herzen bewahrt und so Zwiesprache mit seinen Kindern in den einsamen Stunden in der Zelle hält.

Erst jetzt im Zuchthaus nach fünf Jahren Inhaftierung wird ihm die Anklage eröffnet: Er, der Geschäftsführer und Teilhaber der Maschinenfabrik Julius Fischer, die Tapetendruckmaschinen herstellte, habe in den Kriegsjahren Teile von Waffen gefertigt. In den berüchtigten Waldheimer-Prozessen wird er ohne Verteidigung zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, das Maß stand schon vorher fest.

Schwer krank aus dem Gefängnis entlassen

Zwei Jahre später wird der durch die Haft Schwerkranke freigelassen – im Oktober 1952 durch eine Generalamnestie des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck zum Jahrestag der DDR. Ursula Rathsfeld schreibt: „Ganz langsam ging er … mir entgegen. … Wir gingen aufeinander zu, Schritt für Schritt. „Werner.“ – „Meine Ursula.“ Es gab nichts anderes mehr auf der Welt für uns, – DU. Nur wenige Wochen später glückt ihre Flucht. Getrennt nach West-Berlin. Denn sie dürfen nicht als Familie auffallen. Mutter Ursula mit Marei und Lutz-Martin. Werner Rathsfeld mit Jutta.

Sieben Jahre später wiederholt sich im Freundeskreis die Flucht. Als der sowjetische Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chrustschow, im Herbst 1958 zum ersten Mal unverhohlen und ultimativ damit droht, die Wege nach West-Berlin endgültig zu schließen, kommt ein Patient zu meinem Vater in die Praxis, schließt die Tür und sagt unverblümt: „Wenn West-Berlin dicht gemacht ist, sind Sie dran, Sie stehen ganz oben auf unserer Liste.“ Der Mann, das wussten wir, war beim Staatsicherheitsdienst. Mein Vater, Presbyter in unserer Gemeinde, war zu offen für die Kirche eingetreten; wir Kinder gingen nicht zur Jugendweihe, sondern zum Konfirmationsunterricht.

Flucht, wie die Familie Rathsfeld, auf getrennten Wegen in drei Gruppen: Mein Vater mit der Jüngsten, meine Mutter mit mir, die beiden älteren Schwestern. Treffpunkt war – unvergessen – am 27. März in West-Berlin, bei Aschinger, jenem berühmten Speiselokal, bei dem man für einen Teller Erbsensuppe so viel Brötchen essen durfte wie man mochte. Für uns aus dem Osten ein unvorstellbares Paradies.

Rathsfelds Sohn Lutz-Martin wird zum Start der Neuauflage aus der „Graupenstrasse“ am 5. Dezember im Nordhäuser Tabakmuseum lesen. Auch Volker Kähne wird da sein, der Nordhäuser Mit-Abiturient meiner Schwester. Er, der später die Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters von Berlin leitete, stellt in seinem Nachwort „Die Graupenstrasse“ in den historischen Rahmen. Oder der erste Bürgermeister von Nordhausen nach der Wende, Dr. Manfred Schröter, der heute in jenem Haus in der Karolinger Straße wohnt, in dem Werner Rathsfeld inhaftiert war. Er hat die wenigen Spuren aus der Zeit des GPU-Kellers sorgsam erhalten. Schröter wird den Abend im Tabak-Museum moderieren.

Es wird ein großes Wiedersehen geben. Die Freundschaften halten, bis heute und darüber hinaus.

Wilm Herlyn 04.12.12

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

I accept that my given data and my IP address is sent to a server in the USA only for the purpose of spam prevention through the Akismet program.More information on Akismet and GDPR.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.